Stadtgeschichte

Abb 1: Ansicht von Marburg, 1588
Mittelalter, Fachwerk und Universität – drei Begriffe, die oft mit Marburg an der Lahn in Verbindung gebracht werden. Sie beschreiben aber die Stadt nur unzulänglich und oft wird ein verzerrtes Bild von der Stadt im Lahntal erzeugt. Allein die Stadtgeschichte ist so vielfältig und umfangreich, dass die folgenden Seiten nur Ausschnitte beleuchten können. Prägend für Stadt und Stadtbild ist das Schloss. Im 12 Jh. errichteten die Landgrafen von Thüringen, die zum Geschlecht der Ludowinger gehörten und 1122 das gisonische Erbe antraten, den Nachfolgebau einer ersten Anlage aus dem 11. Jh. Die Burg wurde 1138/39 erstmals urkundlich erwähnt. Marburg war zudem im 12. Jh. bereits Marktort, an dem ab 1140 eigene Münzen geprägt wurden. Die Stadt wurde bis 1180 weiter ausgebaut und eine Ummauerung wurde errichtet, die Schloss, Markt und anliegende Straßen und Gebäude umfasste. Außerhalb der Stadtmauer schuf der Deutschorden ab 1234 einen eigenen unabhängigen Herrschafts- und Gerichtsbezirk im heutigen Nordviertel. Er veranlasste auch den Bau der Elisabethkirche ab 1235 – das Jahr in dem sie heiliggesprochen wurde. Die bald einsetzenden Pilgerströme brachten einen enormen wirtschaftlichen Aufschwung für die Stadt. Einen weiteren Bedeutungszuwachs erlangte Marburg im Jahr 1264, als die Stadt unter Sophie von Brabant zur Residenz der Landgrafschaft Hessen ernannt wurde. Sie war eine Tochter Elisabeths und hatte erst 17 Jahre zuvor ihren erst vierjährigen Sohn Heinrich zum hessischen Landgrafen ausrufen lassen, was heute als „Geburtsstunde Hessens“ gilt. Bis 1260 wurde die Stadtmauer weitere Male erweitert: In südwestlicher Richtung, um das Gebiet des Franziskanerklosters mit einzuschließen (heute Barfüßerstr. 1 und 1+2), nach Südosten hin, wo das Kloster des Dominikanerordens lag (heute Alte Universität) und nach Norden, um den Renthof zu integrieren – das Stadtgebiet wuchs. Doch in den Jahren 1261 und 1319 zerstörten katastrophale Stadtbrände weite Teile der aus Fachwerk bestehenden Altstadt. Das älteste Fachwerkhaus, das wir deshalb finden können, liegt am Hirschberg 13. Sein Kernbau wird auf 1321 datiert, eine Rekonstruktion erfolgte in den 1970er Jahren. Auf Grund der Brände ist insgesamt jedoch nur noch wenig Bausubstanz des Mittelalters zu finden. Bis zum 14. Jahrhundert wurde Marburg Stück für Stück durch die Eingliederung der Vororte Weidenhausen, Ketzerbach, Pilgrimstein und Am Grün erweitert. Viele der heute prägenden Bauwerke stammen aus der Zeit als Residenzstadt. Einer der berühmtesten Landgrafen war zweifellos Philipp der Großmütige, der 1527 die Universität gründete, die zu einem Prestigegewinn der Stadt beitrug und auch heute noch das Profil Marburgs prägt. Nur ein Jahr zuvor wurde der Ausbau des Rathauses abgeschlossen, das mit dem Wappen der Landgrafen in einem Relief den Machtanspruch und die Allgegenwart des Landesfürsten zeigte. Die Kanzlei , die zwischen 1573 und 1577 an der Zufahrtsstraße zum Schloss entstand, hatte eine besondere Bedeutung, da sie symbolisch die Grenze zwischen fürstlichem Terrain und Stadt markierte. Auch dieses Bauwerk, das Regierungs- und Verwaltungsangelegenheiten diente, wird von einem herrschaftlichen Wappen geschmückt. Im 16. und 17. Jh. wurden von Adel, Burgmannen und Bürgertum am Markt großzügige Wohnbauten errichtet. Als jedoch 1604 der Landgraf Ludwig IV. starb, verlor Marburg den Status als Residenzstadt und fiel bei der Teilung Oberhessens an Hessen-Kassel. Dadurch erlitt die Stadt erhebliche wirtschaftliche Einbußen und die Bautätigkeiten ließen stark nach. Zur Zeit Jérôme Bonapartes (Anfang 19. Jh.) wurden Besitztümer des Deutschen Ordens säkularisiert und gingen an die Universität. So entstand in unmittelbarer Nähe zur Elisabethkirche das Klinikviertel.


Abb. 2: Lichtdruck nach einer Fotografie von Ludwig Bickell,
Ansicht von Marburg, vermutlich 1878
Im September 1866 wurde eine Gesetzesvorlage der preußischen Regierung in Berlin angenommen, die die Annexion Kurhessens vorsah. Damit wurde auch Marburg preußisch. Die Periode des königlich preußischen Marburg (1866-1918) gilt als einer der tiefsten und am längsten nachwirkenden Einschnitte für die neuere Universitäts- und Stadtgeschichte. War die Stadt an der Lahn vor 1866 noch von provinziellem Kleinstadtcharakter geprägt und besaß eine der kleinsten Universitäten, so wurde aus ihr erstmals eine voll leistungsfähige, auf manchen Gebieten führende Stätte der Lehre und Forschung. Sie begann sich unter preußischer Förderung nach allen Himmelsrichtungen hin auszubreiten und neue Stadtviertel, wie Nord-, Süd- und Biegenviertel, entstanden. Auch die Tatsache, dass Marburg unter Preußen wieder Garnisonsstadt wurde, beförderte den städtischen Bauboom, dem allerdings eine Vielzahl historischer Gebäude zum Opfer fielen. Als Zeuge dieser Umbruchzeit kann speziell für Marburg der erste Bezirkskonservator Hessens, Ludwig Bickell (1838-1901), fungieren, dessen Photographien diese rasanten städtebaulichen Entwicklungen dokumentieren. Der Aufschwung erfasst auch die Universität, an der um 1900 hochverdiente Wissenschaftler (z. B.: Emil von Behring, Hermann Cohen, Paul Natorp etc.) lehrten – Stadt und Universität standen auf der Höhe der Zeit. Letzteres nicht zuletzt, weil Preußen am Beispiel des eher rückständigen Marburgs seine politische und wirtschaftliche Stärke demonstrieren wollte. Dennoch gehörte Marburg, das seit 1868 Teil des Regierungsbezirks Kassel in der preußischen Provinz Hessen-Nassau war, während der Kaiserzeit (1871-1918) wirtschaftlich gesehen zu den hochverschuldeten Städten des Reiches – ein Umstand, der vor allem auf die Standortpolitik der Stadt und die Umsetzung größerer öffentlicher Bauprojekte zurückzuführen war. Die Ansiedlung von Industrie- und Gewerbestätten, die dem städtischen Haushalt zusätzliche Steuereinnahmen gebracht hätten, wurde zugunsten der Vorstellung einer „antiurbane[n] Idyllik“ verhindert. Damit setzte die Stadt vor allem auf die Universität. Mit der Bereitstellung von Grundstücken für den Bau neuer Institutsgebäude schuf sie einen allmählichen Strukturwandel, der sich letztlich fördernd auf die gesamte Stadtentwicklung auswirkte und nur unter der Berücksichtigung von Marburgs Rolle als Zentrum für Lehre, Forschung
Abb. 3: Fotografie von Ludwig Bickell,
Abriss eines Hauses in der Lingelgasse,
zw. 1869-1901
und Wissenschaft zu verstehen ist. Mit dem Ersten Weltkrieg sollte das bauliche Wachstum Marburgs erst einmal zum Erliegen kommen, doch prinzipiell bestand die Orientierung der Stadt an den Bedürfnissen der Universität auch nach 1918 weiter. Das Jahrzehnt 1920–1930 war für die Marburger Universität ein regelrecht „Goldenes Zeitalter“, obwohl sich Stadt und Universität in der Inflationszeit in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage befanden und auch der Ruf Marburgs als elitäre und reaktionäre Universitätsstadt durch den Skandal von Mechterstädt verstärkt wurde. Das wohl wichtigste Ereignis der 1920er Jahre war für Marburg das vierhundertjährige Jubiläum der Universität (1927), mit dem sich ein regelrechter Investitionsboom, der seines Gleichen suchte, verbinden sollte. Der Freistaat Preußen und großzügige Spender investierten dabei gemeinsam in zahlreiche öffentliche Bauprojekte, wie den Jubiläumsbau (heute: Ernst-von-Hülsen-Haus), das Klinikviertel oder in den Bau mehrerer Studentenwohnheime. Noch heute prägen die erheblichen Umgestaltungen dieser Zeit das Stadtbild, die besonders auf die Initiative des damaligen Universitätskurators Ernst von Hülsen (1875-1950) zurückzuführen sind. Die Jahre von 1933 bis 1945 brachten Marburg die NS-Diktatur und den Zweiten Weltkrieg, jedoch hatte die NSDAP bei Wahlen in Marburg schon 1932 die absolute Mehrheit erreicht. Gleichsam hielt Franz von Papen 1934 in der Aula der Alten Universität die als Marburger Rede bekannte Ansprache gegen Führerprinzip, Volksgemeinschaft und nationalsozialistische Ideologie. Letzteres kann dennoch nicht darüber hinweg täuschen, dass sich Stadt und Universität den neuen Machthabern nicht nur fügten, sondern bereitwillig zur Seite stellten. Baulich fand diese Einstellung bspw. im Archivneubau am Friedrichsplatz 1938 (Staatsarchiv) seinen Ausdruck. Noch im selben Jahr brannte in der Reichspogromnacht die erst 1897 eingeweihte Synagoge der jüdischen Gemeinde in Marburg – angesteckt von Mitgliedern der Marburger SA. Den Zweiten Weltkrieg überstand die Stadt weitgehend unversehrt. Die Altstadt blieb verschont, wohingegen die Universitätskliniken im Nordviertel große Schäden durch Bombentreffer erlitten. Am 28. März 1945 erreichten die ersten amerikanischen Panzer die Stadt, die kampflos übergeben wurde. In der Nachkriegszeit galten die Bemühungen vor allem dem Wiederaufbau und der Organisation des täglichen Lebens, wobei Wohnraummangel, Lebensmittelknappheit und Währungsinstabilität vorherrschten. Erst die Währungsreform 1949 sollte wieder einen Aufschwung mit sich bringen. In den Jahren von 1950 bis 1970, die viele Marburger mit dem Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth (1906-1985) und den Studentenprotesten von 1968 verbinden, stand für die Kommunalpolitik und den damaligen Oberbürgermeister Georg Gaßmann (1910-1987) der Wohnungsbau an erster Stelle. Die Bebauung des Richtsbergs konnte dann nach 1965 die Wohnungsnot wesentlich lindern. Zudem erfolgten verschiedene Schulbauten sowie der Bau kultureller Einrichtungen (Stadthalle und Stadion). Dieser beeindruckenden Aufbauleistung wurde jedoch vielfach wertvolle historische Bausubstanz geopfert. Ein niederschmetterndes Gutachten von 1969 machte zudem deutlich, dass etwa 48% der Marburger Altstadt als dringend abriss bedürftig galten – wie sollte man damit umgehen? Ab den 1970er Jahren änderte sich der Kurs zum Konzept der Stadtentwicklung, was sicherlich auch dem neuen Oberbürgermeister Hanno Drechsler (1931-2003) positiv anzurechnen ist. Statt einer planerischen Flächenerneuerung setzte man nun auf „erhaltende Erneuerung“ und die sogenannte „Mosaik-Sanierung“. Damit erlangte Marburg Vorbildcharakter für die Kombination von Stadterneuerung und Denkmalschutz. In den 70er und 80er Jahren erfolgten weitere Großbauprojekte, wie die Auslagerung der Universitätsklinik auf die Lahnberge 1973 und die Umsetzung des Konzepts von Marburgs Neuer Mitte. Das jüngste städtebauliche Projekt ist die Einrichtung eines neuen innerstädtischen Campus für die Geistes- und Sozialwissenschaften am Alten Botanischen Garten . Es wird sich zeigen, ob damit sowohl die Interessen von Universität und Stadt verfolgt als auch das historisch gewachsene, identitätsstiftende Stadtbild bewahrt werden können. 

Petra Schmidt, Miriam Grabarits 

Ein herzlicher Dank der Studierenden der Übung „Stadtführer durch 
Marburg“ im WS 2013/14 geht an dieser Stelle an den Marburger 
Geschichtsverein, da er die historischen Fotografien von Ludwig Bickell 
(1883-1901), die sich in seinem Besitz befinden und als Dauerleihgabe im 
Bildarchiv Foto Marburg betreut werden, unserem studentischen Projekt 
zur Verfügung stellte.


Abbildungen 2 und 3: Bildmaterial vom Marburger Geschichtsverein, digitalisiert durch FotoMarburg